Obsession mit der Zahl 55


2015, photos, Maße variabel, installation view at
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Concept; Obsession mit der Zahl 55


Unsere Welt scheint aus verschachtelten Systemen und Archiven zu bestehen. Eine Aufgabe der Kunst ist es, diese Systeme aufzudecken, zu manipulieren oder ins Absurde zu führen. Fünfundfünfzig allerdings stellt die Frage, was passiert, wenn man beginnt, das System des eigenen Denkens und der eigenen Identität aufbrechen zu wollen. Was passiert, wenn man die eigene Beobachtung archiviert. Fünfundfünfzig versucht zu analysieren, was aus der Methodik des künstlerischen Arbeitens wird, sobald sie auf sich selber angewendet wird; wenn man die Beobachtung beobachtet, die Abstraktion abstrahiert und die Archive archiviert – und ob man mit dieser Analyse irgendwann an ein Ende stößt.

Vorhandene System können aufgebrochen und daraus neue Strukturen geschaffen werden – jenseits von simpler Reproduktion, sondern Konstruktion durch Abstraktion.

Das Endprodukt – sofern man denn von einem Endprodukt sprechen kann – ist der Blick in ein fotografisches Archiv der künstlerischen Identität. Ein Aufbrechen der eigenen Methodik, die stark geprägt ist von der Frage nach Fokussierung, Abstraktion und Materialität.

In Fünfundfünfzig wird ein Dachboden transformiert zu einer architektonischen Mindmap, in der scheinbar unabhängig gestreute Handlungsstränge archiviert und letztendlich zusammengeführt werden. Jeder dieser Handlungsstränge beginnt an einem ähnlichen Ausgangspunkt: dem einer Sammlung – ob eigen oder angeeignet – und vollführt von dort eine rekursive Aufspaltung der der Sammlung zugrundeliegenden Systeme. Die so erhaltenen Teile werden manipuliert und benutzt, um neue Ordnungsstrukturen zu schaffen. Der ursprüngliche Fokus wird jedoch verlagert, um neue Aspekte der Materie hervorzuheben.

Die so entstehende Mindmap ist durchzogen von solchen Strängen – an drei exemplarischen soll das System dieser Beobachtungsprozesse erklärt werden. Wie bei so vielen Systemen wird somit dem „Ganzen“ die Möglichkeit gegeben, sich von selbst zu erschließen.

Es macht Sinn, an dem Prozess zu beginnen, der den Namen am augenscheinlichsten prägt: ein Kasseler Briefmarkensammler durchforstet städtische Papiertonnen nach alten Briefumschlägen. Eine Kiste, die den ungewollten Ausschuss beinhaltet, verkauft er für fünf Euro auf dem Flohmarkt. Der Verkauf markiert den Beginn des künstlerischen Eingriffs. Doch schon dem Kauf geht ein verschachteltes Wertesystem voran: ein Stück Papier wird mit der monetären Aufwertung durch die Briefmarke in ein Postsystem geführt, durch Abstempeln entwertet, vom Empfänger wertlos in den Papiermüll geworfen, vom Finden des Sammlers erneut aufgewertet, und letztendlich als Ausschuss deklariert wieder abgewertet.
Doch der künstlerische Eingriff und das entstandene Ordnungssystem führen zu einer Obsession mit der Zahl Fünfundfünfzig und ihrem Auftreten. Die Suche nach Systemen, die von einer Zahl durchzogen werden, folgt dabei den Phänomenen der Quantenphysik: durch Betrachtung verändert sich das Betrachtete. Ferner, durch das Fokussieren auf eine einzige Zahl beginnt sie überall aufzutreten.
Und so führt die Suche nach der Fünfundfünfzig zur Seitenzahl Fünfundfünfzig. Trotz der gleichen Ziffern unterscheidet sich die Zahl auf der Seite doch fundamental von ihrem Briefmarkenpendant. Wo alle Fünfundfünfzig-Cent-Marken als Phänomene eines großen (Post-)Systems auftraten, ist jede Seitenzahl Fünfundfünfzig Teil eines einzelnen Systems: das der Logik und Dramaturgie ihres zugehörigen Buchs.

Also wird die Zahl zunächst gehortet. Aus Büchern, die in öffentlichen Regalen zum Tauschen abgelegt werden, wird lediglich die Fünfundfünfzig vorsichtig herausgetrennt. Diese Sammlung von Seitenzahlen ist eine Sammlung abstraktester Materie. Ihrem zweckmäßigen System entrissen, aufgeladen mit der Magie des Buchs, aus dem sie stammen, wird ihr Fehlen zum Irritationsmoment zukünftiger Buchtauscher. Die Fünfundfünfzig wird zur Frage nach und zur Identifikation mit der herausreißenden Wiederholungstäterin.

In einem weiteren Betrachtungsschritt wird jede einzelne Seitenzahl geknickt. Mit nur einem Handgriff

wird eine stabile Grundform – ein Dreieck – hergestellt und die Zahl aus ihrem ewigen zweidimensionalen Dasein buchstäblich in die Dreidimensionalität erhoben; nur um durch den darauffolgenden Blick der Fotokamera wieder in das flache Archiv zu zerfallen.
Dieser Gedanke wird bestärkt durch den Magentafilter der Fotos: der Betrachtungsstandpunkt wird erneut geändert. Das Dreieck tritt wieder in den Hintergrund. Die Zahl, ihre Einzigartigkeit in ihrem Buch und die Jagd auf sie wird nebensächlich – was bleibt, ist eine Sammlung von Betrachtungen von Betrachtungen. Ein großes Archiv, das in seiner Magentamasse Assoziationen an die Innenseite von Briefumschlägen weckt. Der Kreis schließt sich scheinbar, doch einige wenige geknickte Fotografien erinnern an die Offenheit des Prozesses. Und so wird die Mindmap der Beobachtung wieder zum beobachteten Objekt.

Dieses Prinzip des Fokussierens, des wiederholten Herangehens und Zurücktretens, findet sich im Prinzip der körperlichen Betätigung wieder. In fünfundfünfzig Fotos derselben Bewegungsabläufe tritt die Anstrengung und das Abmühen an einer Sache in den Vordergrund und lässt das abgebildete Footbag-Spiel zurück. Zu abstrakt und ermüdend werden mit der Zeit die Fotos des sich immer wiederholenden Ballspiels. Aus Langeweile wandert der Blick auf die umliegende Installationssituation, in dem der Sport fotografiert wird. Der Fokus des Betrachters wird Teil des Ballspiels, springt von betrachtetem Körper zum Archiv der Betrachtung und zurück. Schließlich aber wird in fünfundfünfzig vom Computer automatisch gewählten Ausschnitten der Körper ausgelöscht und das Bild auf die algorithmische Suche nach dem Gesicht reduziert. Ein Computerprogramm wird zum Beobachter der Person und stellt somit die Frage nach dem Betrachter auf eine neue Ebene.
Vielleicht erhält hier die Betrachtung des Körpers und des Raums auch ihre krudeste Bestätigung: auf einigen Bildern wird der umliegende Raum als Gesicht erkannt und ausgewählt. Selbst der Algorithmus wird Spielball des Fokussierens, und wendet sich der Mindmap zu.

Auch die Magentafilter-Fotografien russischer Häuser (Dorf,  2014) folgen derselben akribischen Methodik: Zunächst wird jedes Haus im Dorf fotografiert; eine Sammlung wird angelegt. Letztendlich wird jedoch durch Selektion fokussiert, und somit vollenden die dreieckigen Dächer von nur einigen wenigen Häusern den Kreis. Die Obsession, die Jagd nach der Fünfundfünfzig, dem 5.5., meinem Geburtsdatum, findet ihr Ende in der Kindheit. Aber geführt vom Blick der Künstlerin von heute – nostalgiefrei.

Schließlich ist die Analyse des Denkens die Analyse der eigenen Person, die Beobachtung der Beobachtung dann doch irgendwo die Beobachtung der eigenen Identität. Denn ohne Identität kann Kunst nicht bestehen: Am Ende muss jemand für die Arbeit einstehen.